Über den Willen zur Bewegung
Sie hat es tatsächlich getan, sie hat es geschafft! Verwundert reibe ich mir die Augen. Ein Gesicht schaut zu meiner Zimmertür herein. Das Gesicht meiner Mutter, auf allen Vieren. Was für ein Vorweihnachtsgeschenk!
Ich war etwa 11 Jahre alt, spielte im ersten Stock unseres Hauses in meinem Kinderzimmer und konnte es kaum glauben. Meine Mutter hatte den Willen und den Mut, um sich den unglaublich schweren „Anstieg“ über unsere Marmortreppe zuzutrauen. Ich war gerührt und verwundert zugleich. Wie hatte sie das bloß gemacht, in ihrer rutschigen Trainingshose?
Meine Mutter hatte Multiple Sklerose. Vor bald 20 Jahren ist sie an den Folgen der Krankheit gestorben. Die MS ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, bei der sich die Myelinscheiden, die die Nerven schützen, zersetzen. Die Folgen: schrittweise Lähmung, je nach Verlaufsform der Krankheit chronische oder stufenweise Beeinträchtigung der Motorik, Sprechfähigkeit und des Gleichgewichtssystems. Nach wie vor gibt es keinen Durchbruch in der MS-Forschung, um es vorsichtig zu formulieren. Zwar sind Medikamente auf dem Markt, die den Verlauf verzögern oder bestimmte Symptome behandeln, eine vollständige Therapie ist aber, auch 40 Jahre nach dem Krankheitsausbruch bei meiner Mutter, nicht möglich – zumindest soweit ich das als Laie einschätzen kann.
Bewegung
Meine Mutter ist also in der Adventszeit über die steile Treppe zu mir in den ersten Stock gekrabbelt. Das hört sich für „gehende“ Menschen vielleicht banal an. Für mich ist es jedoch nach wie vor eine der prägnantesten Erinnerungen, die ich an meine Kindheit habe. Denn für Mutti war die Treppe das, was für andere eine sehr schwere Kletterroute oder eine komplizierte Canyoning-Tour ist. Eine gefährliche Herausforderung. Etwas, auf das man sich vorbereiten muss. Für mich war es vor allem eine riesengroße Überraschung!
Denn es hatte offenbar niemand aufgepasst. Keine Putzfrau im Haus und kein Vater, der sie zur „Raison“ bringen konnte. Zwar war ich es als kleiner Junge gewohnt, dass sie ihre Krabbelübungen machte, die Dimension „erster Stock“ war allerdings neu. Denn es war ihr schon lange nicht mehr möglich, aus dem Erdgeschoss auszubrechen. Wenn, dann nur unter Zuhilfenahme eines Lifters, also eines kleinen Krans, mit dem wir sie in den Rollstuhl setzen konnten. Doch jetzt hatte sie alle Rutsch-Gefahren in den Wind geschlagen und war ihrem Antrieb und ihrer Zuneigung zu mir gefolgt. Wie sehr ich mich freute! Ich war stolz auf sie. Und jetzt, im Nachhinein, freue ich mich immer noch.
Wie schwer muss es gewesen sein, ihren nur schwer koordinierbaren Körper in Balance zu halten. Die Beine waren zum Teil gelähmt, ihr Gleichgewichtssinn stark beeinträchtigt. Zudem muss sie sich sehr bemüht haben, damit ich nichts mitbekomme. Mein Zimmer lag fast direkt gegenüber dem oberen Treppenende, und unsere Treppe gab bei Belastung melodiöse Töne von sich. Nicht so jetzt, meine Mutter hatte sich angeschlichen wie eine Tigerin.
Es muss gehen
Dass meine Mutter krabbelte, war für mich als kleiner Junge von sieben bis zehn Jahren nichts besonderes. Krabbeln gehörte für sie zum Alltag, zur körperlichen Ertüchtigung, zum Training. Krabbeln war Lebenswille und -Freude. Den Fortschritt der Krankheit könnte man auch an der schrittweisen Veränderung ihrer Fortbewegungsart festmachen. Gehen wurde zu unsicherem Gehen, Gehen mit Stock wurde zu Gehen mit dem Rollator, nach dem Rollstuhl kam schließlich die Bettlägerigkeit. Fragte ich sie, wie es ihr denn gehe, kam stets die nachdrückliche Antwort: „Es muss gehen!!“ Der Wille zur Bewegung war stets da. Auch wenn sie kurz vor ihrem Tod nur noch den Kopf hin- und herbewegen konnte.