Karwendelultra
Von Zuhause ins Zentralkarwendel laufen, durch die bayerischen Voralpen, die Jachenau und über das Karwendelhaus. Ein Projekt, das einige Jahre vor sich hinschlummerte. Und endlich mal umgesetzt werden musste.
Prolog
Vor drei Jahren habe ich es schon mal probiert. Nach einer normalen 40 Stunden-Arbeitswoche laufe ich am Freitagabend um 22 Uhr alleine in Königsdorf/Obb. los. Mitternacht bin ich am Zwiesel, dem ersten Gipfel auf der Strecke.
Irgendwo zwischen Zwiesel und Tutzinger Hütte wird es zäh. Die Motivation beginnt zu hinken, eine innere Stimme sagt mir, dass das nichts wird. Trotzdem mache ich weiter, schlafe hinter der Tiefentalalm eine halbe Stunde unter meiner Rettungsdecke in einer Mulde, komme noch zu nachtschlafender Zeit an der Tutzinger Hütte vorbei.
Hinter der Glaswandscharte machen am Wasserfall an der Großen Laine die Beine dicht, die Psyche hat sich ebenfalls ausgeklinkt. Ich breche das Vorhaben, in einem Schwung von Königsdorf bis ins Karwendel zu laufen, in Jachenau-Ort nach ca. Marathondistanz ab. Beim nächsten Mal, so schwöre ich mir, gehe ich es schlauer an und verteile die insgesamt 75-95 km (je nach letztendlich angesteuerter Destination) auf mehrere Tage. Ein self-supported Solo-Ultra in dieser Länge und dieser Komplexität an nur einem Tag zu machen ist dann doch etwas zu viel…
Nun ist es Ende Juni 2018. Dieses Mal frage ich meinen Arbeitskollegen und Ultra-Experten Danny, ob er dabei ist. Er sagt ohne langes Zögern zu! Jippie, es kann wieder losgehen!
In die Vorberge
Die Gartentür fällt mit einem Klackern zu. Klappt es diesmal? Reicht die Motivation? Reicht die Kraft – oder macht uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung?
Mit eher trüben Gedanken mache ich mich auf die ersten Kilometer, lasse das frühnachmittäglich träge Königsdorf gegen 15 Uhr hinter mir und laufe zunächst auf die Teerstraße Richtung Kreuth. Versuche, zur Ruhe zu kommen. Ein Porsche röhrt vorbei. Endlich, der Abzweig Richtung Rothenrain und damit der Abschied von stark befahrenen Straßen ist erreicht. Am Erdbeerfeld ist nichts los. Schnell bin ich allein unterwegs.
Im Rothenrainer Moor nach 3 Kilometern ein erster Fototermin, ich bin schon drin im Laufen, die trüben Gedanken sind wie weggewischt, es wird schon werden mit den ersten knapp 30 Kilometern bis zur Tutzinger Hütte.
Wie in Trance huscht Fischbachmühle vorbei, dann Vogelsang, ein bisschen beißen bei Reith. Ich sage ein paar Kühen Hallo und stehe nach knapp 10 Kilometern an der Talstation der Blombergbahn.
Jetzt heißt es umschalten. Es geht das erste Mal so richtig rauf. Über den Rodelweg gar nicht mal so flach. Die Umstellung fällt schwer – nach einer guten halben Stunde sitze ich aber schon oben vor dem Blomberghaus und wundere mich, was daran jetzt so anstrengend war … mal wieder zeigt sich, dass die Blockaden im Kopf die hartnäckigsten sind.
Die Temperatur ist in den Keller gepurzelt und dürfte irgendwo um die zehn Grad liegen, Wolken haben sich herangepirscht, ein Regenschauer zieht vorbei. Ich fröstle und fange erneut an, am Erfolg der Aktion zu zweifeln.
Aber nix da, weiter, zur Tutzinger schaffe ich es auf jeden Fall – wurscht, wie das Wetter wird. Plötzlich: Polizei! Am Abzweig zum Zwiesel steht ein Audi 80 in Polizei-Lackierung. Moment. Polizei?! Audi 80?! Schnell wird klar – hier heroben wird heute Hubert und Staller gedreht. Ein Allrad-VW-Bus fährt die mitunter recht steile Kiesstraße Richtung Schnaiteralm hinauf, direkt bei der Alm stehen große Mercedes-Lieferwägen, auf dem Ziehweg Richtung Lehenbauernalm kommt mit ein Allrad-Touareg entgegen, bei der Gassenhoferalm wird gerade gedreht. Film-Halligalli! Die Bergwacht steht mittendrin und schaut etwas verlegen…
Beißen nach der Tiefentalalm
Mit der Schnaiteralm (1.245 m) ist die erste Hürde genommen, ich nehme den Dampf raus, gehe zeitweise in den Wandermodus über und mache weiter unten ein paar Bilder vom Hochmoor neben der Lehenbauernalm.
Die Uhr rückt jedoch gnadenlos voran, ich will noch vor 19 Uhr bei der Tutzinger Hütte sein und nehme daher wieder die Beine in die Hand. Wollgrasfelder flankieren den matschigen Pfad zur Lexenhütte, Urgestein-Findlinge garnieren den Weg, schließlich hüpfe ich durch den Murnerbach und stehe bald vor der Melchersteffl-Alm, wo mich gut zwanzig Kuhaugenpaare neugierig verfolgen. Die auf exakt 1.000 Metern liegende Melchersteffl-Alm ist ein echtes Kleinod. Bis auf den Fahrweg erinnert hier oben nichts an das Jahr 2018. Man fühlt sich 150 Jahre zurückversetzt.
Die verbleibenden Körner will ich mir aufheben und gehe gemütlich rauf zur Sattelalm, verfalle dann aber nochmals in einen zügigen Laufschritt, den ich bis hinauf zur Tiefentalalm durchhalten kann. Ein Fatbiker kommt mir entgegen. Der einzige Mensch zwischen Lehenbauernalm und Tutzinger Hütte. Soviel zum Thema überlaufene bayerische Voralpen … nicht hier, nicht zu diesem Zeitpunkt.
Das Steilstück hinauf in den Sattel am Glenner Bergl stellt die finale Crux dar. Der untere Teil ist noch laufbar, oben raus wird’s dann sch(m)wierig und ich beiße mir an den glitschigen Kalkblöcken die Zähne aus. Die gut 200 Höhenmeter von der Tiefentalalm sind jedoch auch bald rum und es geht den letzten, etwas mühsamen Kilometer zur Tutzinger Hütte hinab. Kurz vor 19 Uhr bin ich da – und warte auf Danny, der von Lenggries über Brauneck, Latschenkopf und Achselköpfe zur Tutzinger Hütte läuft – und vorher, wie ich gleich erfahren werde, auch noch den Benewand-Gipfel mitgenommen hat.
Nach Leberkas mit Ei und alkoholfreiem Bierchen taucht er auch schon auf – unser voralpines Meeting hat reibungslos geklappt, ab jetzt geht’s zu zweit weiter! Wir bestaunen noch einen atemberaubenden Sonnenuntergang, um 10 Uhr ist Nachtruhe.
Steinbock im Morgenlicht
Ein Blick aus dem Dachfenster am nächsten Morgen: Das Wetter schaut gut aus. Einzelne Schäfchenwolken, sonst nichts. Wir haben es nicht eilig, lassen uns das Frühstück schmecken, nehmen einen zweiten und einen dritten Kaffee und brechen exakt um 8 Uhr auf.
Gleich zu Beginn müssen wir rauf zur Abzweigung des Steigs zur Glaswandscharte – Steinbockgelände! Prompt tauchen zwei gehörnte Urviecher in der Morgensonne auf.
Der Weg hinab in die Jachenau vergeht wie im Rausch. Knapp 800 Höhenmeter feinsten Trailrunnings, ein Geturne über grobes Blockwerk, feine, sandige Pfade, zwischendrin exponierte Kehren, kurze Verschnaufer und Wasserfälle, Gumpen. Beste Morgenstimmung mit taubenetztem Gras, glasklarem Morgenhimmel und frischer, nach Bergwiesen duftender Luft.
Gegen halb zehn laufen wir schon in Jachenau-Ort ein, steuern direkt den Dorfladen an, lassen uns einen Kaffee raus und setzen uns zum zweiten Frühstück auf die Terrasse.
Rißsattel, oder: In das Land der tausend Kehren
Der Kaffee tat gut, vielleicht zu gut – und so verpassen wir prompt die richtige Abzweigung zum Rißsattel, müssen einen kurzen Umweg in Kauf nehmen, landen schließlich doch auf der richtigen Route nach Vorderriß. Es gäbe eine etwas schönere Variante über die Lainer Alm – wir sind aber so fixiert, dass wir auf dem Fahrweg bleiben, durchbolzen und schließlich am Rand des Hochmoors landen, das den Zustieg zum 1.217 Meter hohen Rißsattel vermittelt.
Es folgt ein Kehrenrausch, der es in sich hat. Ich höre auf zu zählen. Die Bergflanke bricht Richtung Isartal steil ab – der Fluß scheint senkrecht unter uns und so nahe am Hangfuß zu liegen, dass wir ihn gar nicht sehen können. Danny hat die Handbremse gelöst und läuft wieselflink den Pfad hinab. Zwischendurch sehe ich ihn mal wieder auftauchen, erhasche traumhafte Ausblicke auf das gigantische Kiesbett des Rißbachs und das dahinter thronende Karwendel mit Vogelkar- und Östlicher Karwendelspitze.
Der Pfad spuckt uns schließlich in einer unwirklichen Umgebung aus: Links ein Mauthäuschen, rechts schmärbäuchige Motorradfahrer in grellen Lederkombis, dazwischen Euskirchener Wohnmobile, die von besserverdienenden Pärchen in PS-starken Cabrios mit Münchner Kennzeichen flankiert werden.
Dazu Benz-fahrende Rentner auf dem Weg in den Himmel der Bayern – oder besser in den Himmel der Tiroler, denn die meisten wollen wohl zu den Eng-Almen im benachbarten Österreich. Unter uns – da gibt es heimeligere Ecken in Tirol. Auch wenn die Eng – ohne Autolärm und zu den Tagesrandzeiten – durchaus ihre Reize hat.
Hin und wieder zischt ein Rennradler vorbei. Dann wieder das Knattern und Blubbern überzüchteter Auspuffanlagen. Benzindampf steigt in die Nase. Was für ein bizarres Idyll. Willkommen im Wochenend-Autowahnsinn zwischen Fall, Wallgau, Vorderiß und Hinterriß!
Rißbachwüste
In Vorderiß wird eingekehrt. Spinat- und Kaspressknödel, alkfreies Bier, Espresso. Danach weiter, die Teerstraße in die Eng mit ihren röhrenden Befahrern (ausgerechnet heute scheint hier irgendwo ein Harley-Meeting zu sein…) möglicht schnell gequert und schwupp, schon sind wir durch den Busch im furztrockenen (dem Rißbach wird wenige Kilometer bachaufwärts das Wasser in Richtung Walchensee entnommen) Kiesbett des Rißbachs gelandet.
Eine gigantische, gleißend grauweiße Einöde, die kurz vor der Mündung des Rißbachs in die Isar gut dreihundert Meter breit ist. Ruhe herrscht hier jedoch keine. Das Röhren der Motoren echot im unteren Rißtal hin- und her … insgeheim wünsche ich mir eine Sperrung des gesamten Tals ab Vorderiß. Aber da wären einige gut an den Touris verdienende Almbauern und Touristiker sicher dagegen…
Die Weite des Bachbetts, diese gigantische Kieseinöde gibt trotzdem Zeit und Raum, die Gedanken schweifen zu lassen.
Rein sportlich gesehen fühlt sich das bisher alles sehr gut an. Obwohl wir nie lange Strecken miteinander unterwegs waren, läuft es sich mit Danny komplett reibungslos. Wir haben unseren Spaß in der Natur, das ist die Hauptsache! Das Karwendel-Projekt nimmt Gestalt an – und die Beine machen mit. Zum Karwendelhaus werden wir es schaffen, da bin ich mir sicher.
Der verfallen(d)e Steig
Einige Kilometer suchen wir noch unseren ganz eigenen Weg zwischen Kieseln, Schotter, feinem Sand und spärlichem Pionierbewuchs. Fällt der Rißbach wie jetzt komplett trocken, erobert sich die Natur die vom Wasser zurückgelassene Ödnis Stück für Stück zurück.
Schließlich – ein Glitzern, ein schüchternes Plätschern: der Bach hat wieder Wasser! Es versickert rund 3 Kilometer oberhalb der Mündung in die Isar. Wir benetzen das Gesicht. Die Sonne steht inzwiwschen hoch am Himmel – was für eine Erfrischung!
Endlich sind wir an der Abzweigung Richtung Paindl, queren die grobe Holzbrücke, schalten wieder auf Bergmodus. Eine Gruppe Pfadfinder (?) mit schweren Rucksäcken sitzt auf einem Holzstoß, schaut uns mit unserer leichten Trailrunningbekleidung an, als seien wir vom Mars. Sie werden die einzigen bleiben, die uns im Fermersbachtal bis kurz vor der Fereinalm begegnen.
Bald sind wir auf dem traumhaften Trail, der sich nur mäßg steigend das Tal hinaufwindet. Einst muss er den einzigen Zugang in das waldreiche Tal vermittelt haben, Flur- und Ortsnamen wie „Alte Klause“ machen darauf aufmerksam, um was es hier schon vor Jahrhunderten ging: extensive Holzwirtschaft.
Der Pfad wurde mit nicht unerheblichem Aufwand in die Steilhänge unterhalb der Baier- und Krapfenkarspitze getrieben, beeindruckende Stahlträger, Holzbohlen und Stahlseile zeugen von einer betriebsamen Vergangenheit. Jetzt verfällt alles, einzelne Stellen werden in absehbarer Zeit nur noch schwerlich passierbar sein, der Weg wird offensichtlich nicht mehr instandgesetzt und nur noch selten begangen.
Schnell stellen wir fest, wer sich hier wohlfühlt: Zecken. Ich klaube mir ca. zehn Exemplare von den Beinen, bei Danny sind es ähnlich viele. Der Pfad ist zum Teil von Gras überwuchert. Die Mistviehcher müssen nur sitzen und auf ihre Opfer warten.
Bäralpl – jetzt wird’s alpin!
Viel zu schnell ist der Pfad vorbei, wir erreichen über einen welligen Fahrweg die wildromantische Brandelalm und schließlich den Talboden des Fermersbachtals. Pause!
Heute läuft in den USA der Western States Endurance Run (ein legendärer, wenn nicht der legendärste 100 Meilen-Lauf). Wir sinnieren, wie es dort wohl gerade aussieht und wie Mitfavorit Jim Wormsley performt. Danny will mal beim Western States mitmachen. Ich drücke ihm die Daumen, dass es was wird mit diesem Lauftraum! Wir „underperformen“ noch etwas und reduzieren unsere Essvorräte.
Radler, die die Karwendelrunde (und damit den uralten Karwendel-MTB-Klassiker aus dem Moser-Führer schlechthin) machen, queren an dieser Stelle den Fermersbach. Leicht amüsiert beobachten wir ein Pärchen dabei, wie es sich erst sehr spät dazu entscheiden kann, die Schuhe auszuziehen und zu waten. Ist dann doch das Einfachste…
Das spannende Finale dieses Lauftags, auf dem wir einen guten Marathon und rund 2.300 Höhenmeter zurücklegen, wartet noch auf uns. „Nur“ noch rauf auf das Bäralpl und rüber zum Karwendelhaus. Dieses „nur“ beinhaltet jedoch 600 Höhenmeter, Klettersteigeinlagen und einen welligen Wurzelweg durch Latschengelände.
Zum Auftakt schnaufen wir einen alten Karrenweg in Fallline zum Hufachboden hinauf. Ich habe ihn von einer Solo-Biwaktour, die ich (es war glaube ich 2007) gemacht habe, noch in Erinnerung. Für alle, die vom Fermersbachtal zum Bäralpl hinauf wollen, stellt er die Idealroute dar.
Die Atmosphäre am Hufachboden ist zutiefst beeindruckend. Gigantische Nadelbäume umrahmen die fast ebene Fläche im Zentrum, zum Teil sehr frische Schuttströme zeugen von den gewittrigen letzten Wochen, beeindruckende Ameisenhaufen und große Felsblöcke garnieren den Pfad. Über alles thront die breite Nordwand der Raffelspitze, ihr 2.324 Meter hoher Gipfel genau tausend Höhenmeter über uns.
Der Pfad schlängelt sich durch dünner werdenen Latschenbewuchs die Schuttreise am Fuße der Nordwand hinauf, wird langsam zur grobschottrigen Steigspur, veliert sich fast im Geröll.
Schließlich folgt ein Schneefeld, direkt beim Einstieg zum einfachen Klettersteig (max. Kategorie A), der hinauf zum Bäralpl leitet. Zum Glück können wir es umgehen, kommen also ohne Schneeberührung hinauf zum Steig, hangeln uns hinauf zum Bäralpl, bewundern die Karwendel-Hauptkette mit ihren einsamen Hochkaren gegenüber.
Nur noch wenige, latschenreiche Kilometer trennen uns vom Karwendelhaus, wo wir ca. eine Stunde später ankommen und uns ein reichhaltiges Abendessen schmecken lassen.
Toni Gaugg-Weg – oder nicht?
Um 6 Uhr stehe ich auf, ab 7 gibt es Frühstück. Mein Bruder meinte in einer SMS am Vortag, er würde sich eventuell zum Frühstück blicken lassen und extra in der Früh von Hinterriß zum Karwendelhaus raufradeln.
Schlaftrunken mache ich einen Morgenspaziergang Richtung Hochalmsattel, setze mich auf die Bank auf der Passhöhe, beobachte das träge Spiel der Nebelschwaden. Wird Urs kommen? Ich bin mir nicht sicher, ob er den Aufbruch bei diesen wackligen Wetterverhältnissen wagt…
Fünf Minuten später gehe ich wieder zurück Richtung Hütte. Er wird wohl nicht kommen. Vermutlich liegt ihm das Deutschland-Schweden WM-Spiel, über dessen Verlauf uns der Hüttenwirt lautstark informierte, schwer in den Knochen. Doch da – was war das? Ein Knirschen, eine klackernde Schaltung, schließlich das Rollgeräusch von groben MTB-Reifen. Urs taucht aus dem Nebel auf. Wir fallen uns in die Arme. Mit dem Bruder frühstücken – und dann auch noch hier – was gibt es schöneres!
Nach einer dreiviertel Stunde schnabolieren und plaudern rollt er wieder hinab ins Tal. Danny und ich überlegen nur kurz, wie es bei uns weiter geht. Auf Birkkarspitze und Schlauchkar haben wir aus mehreren Gründen keinen Bock. Der Hauptgrund besteht darin, dass sich im Toni-Gaugg-Weg zur Pleisenhütte eine viel laufbarere (und in meinen Augen auch deutlich schönere) Option bietet, als die Birkkarspitze über das steile Schlauchkar zu besteigen.
Der Toni Gaugg-Weg ist für mich eine viel logischere Linie, diesen Lauf zu beenden, als mit der Birkkarspitze zwanghaft den höchsten Karwendelberg abzuhaken (auf dem ich persönlich eh schon mindestens fünf Mal stand). Außerdem habe ich Respekt vor dem steilen Schneefeld knapp unter dem Schlauchkarsattel. Es könnte heute mit Trailrunningschuhen keine schlaue Idee sein, dort unterwegs zu sein. Doch ist der Gaugg-Weg eine schlauere Idee? Wir werden sehen…
In die Karwendelödnis
Als einzige KWH-Übernachter starten wir wenig später trotzdem Richtung Schlauchkar, durch das auch der Normalweg auf die Birkkarspitze führt. Den meisten Birkkarspitz- bzw, Halleranger-Aspiranten hat der Hüttenwirt berechtigterweise abgeraten und eine Alternativroute (den enormen Hatscher über Scharnitz) empfohlen.
Die ersten Rampen haben wir hinter uns, das Kar öffnet sich, wir zweigen nach rechts auf den Pfad Richtung Brendelsteig und Toni Gaugg-Weg ab. Ein paar Biwaker schälen sich aus den Schlafsäcken, wir steuern die einzige Wasserstelle für die nächsten alpinen Kilometer an.
Auf ca. 1.850 Metern müssen wir ein erstes Schneefeld queren. Im Schatten der Ödkarspitz-Nordwand kommt wenig bis keine Sonne dran. Entsprechend hart ist es. Wie werden die Schneefelder weiter oben aussehen?
Schließlich meinte der gestrige Wetterbericht, es würde bis 2.400 Meter runterschneien, und wir müssen bis auf ca. 2.500 rauf. Apropos: Das angekündigte (schlechte) Wetter scheint sich – zu unserer Freude – nicht recht durchzusetzen. Immer mehr blauer Himmel kommt zum Vorschein, immer mehr Sonnenstrahlen lassen sich an den höheren Karwendelbergen sehen.
Schließlich sind wir oben auf dem ersten „Pass“ des heutigen Tages, dem Nordwestrücken der Ödkarspitzen, und müssen gleich wieder steil runter. Ein Stahlseil entschärft die bröslige Flanke, trotzdem bin ich froh, als ich den festen Karboden des oberen Marxenkars unter den Füßen spüre. Jetzt folgt nämlich Laufgelände vom Feinsten!
Wir queren das Marxenkar, beobachten Gemsen auf noch beeindruckend großen Schneefeldern, laufen hinauf zur namenlosen Scharte oberhalb des Breitgrieskarbiwaks und bereiten uns innerlich langsam auf den Höhepunkt des Tages vor. Denn jetzt kommt das Schmankerl – der Gipfel der Kleinen Seekarspitze. Wir lassen alles Belastende in der Scharte liegen und laufen rund 150 Höhenmeter den felsdurchsetzten, aber nie schwierigen Gratrücken hinauf zum Gipfel. Geschafft! Schlag ein, Danny!
Wenig später inspizieren wir einmal mehr die einsam daliegende Biwakschachtel in der Breitgrieskarscharte. Das letzte Mal übernachtete ich im Oktober 2013 im Schneesturm alleine hier oben. Heute sind die Witterungsverhältnisse deutlich angenehmer…
Ein paar versteckte Schneefelder machen den Anstieg Richtung Breitgrieskarspitze nochmal etwas spannend, am Ende sind wir dann aber doch mittendrin in der eigentlichen Schlüsselstelle des Toni Gaugg-Wegs: der Traverse der Breitgrieskarspitze.
Die Breitgrieskarspitze selbst lassen wir rechts liegen. Mit der Kleinen Seekarspitze sind wir heute schon vollends bedient. Das Schneefeld im obersten Hinterkar schaut nicht mehr so tragisch aus. Ist es auch nicht – nur verlangt es uns nochmal ein wenig Kraxelei ab, da wir nicht entlang des im Schnee verschwindenden Stahlseils abklettern können und einen kleinen Haken schlagen müssen.
„Was hier wohl ein Lukas Ruetz gemacht hätte?“, frage ich mich kurz. Von unten gesehen bin ich anschließend froh, die direkte Abfahrt übers Schneefeld mit den Laufschuhen nicht gewagt zu haben. Wenn man hier ins purzeln kommt….
Im Rausch
Wir haben es geschafft. Der Gaugg-Weg war uns Läufern heute wohlgesonnen. Wir turnen hinunter ins Hinterkar, beobachten ein großes Gamsrudel bei der Jause, queren schließlich nach rechts raus und hinauf in die Rinne zur sogenannten „Kuchl“.
In den Latschen zur Pleisenhütte steht die Hitze, wir können das nächste Alkoholfreie nicht erwarten, endlich, der Abzweig zur Pleisenspitze und das Finale auf dem gut ausgetrampelten Weg. Erst hier treffen wir wieder auf einen Bergsteiger. Den ersten auf der gesamten Streck seit den Biwakern oberhalb des Karwendelhauses!
„Wie lange wart ihr unterwegs?“ 3,5 Laufstunden. Die Hüttengäste staunen, derweil war hier sicher schon ein anderer, weniger Mitteilungsbedürftiger schneller. Trotzdem sind wir stolz wie Oskar, dass alles so schön geklappt hat und lassen uns ein kleines, verspätetes Mittagessen schmecken.
Aus der Traum
Jetzt geht’s nur noch abwärts. Und zwar wie! Wir joggen den groben Karrenweg Richtung Scharnitz runter, dass es eine Freude ist. Ich hätte nicht gedacht, dass die Beine noch soviel hergeben. Wir nehmen alle Abkürzer mit, queren weglos Richtung Karwendelsteg und staunen über die tiefe Klamm, die der Karwendelbach in den Kalk gefräst hat.
Kurz noch den Karwendeltal-Fahrweg vor, den Stich zur Pürzlkapelle rüber und den finalen Trail zur Bahn-Brücke in Scharnitz runter. Das war’s. Finito. Ende. Aus. Per Schienenersatzverkehr geht es (zum Glück ohne lange Wartezeiten) nach Mittenwald, mit dem Zug über Garmisch und Tutzing nach Penzberg, wo wir von Kathi und den Kindern eingesammelt werden.
Nächstes Projekt mit Danny – gerne wieder!!!
Alle Daten zum Karwendelultra
(erste Angabe gemessen auf outdooractive.com / zweite Angabe Tracking mit Garmin Fenix 3 – die Wahrheit dürfte irgendwo dazwischen liegen, da der GPS-Empfang manchmal unzuverlässig war)
Tag 1: Königsdorf – Tutzinger Hütte
28,9 Kilometer und 1.345 Höhenmeter / 27,3 Kilometer und 1.335 Höhenmeter
Tag 2: Tutzinger Hütte – Karwendelhaus
41,2 Kilometer und 2.124 Höhenmeter / 42,62 Kilometer und 2.376 Höhenmeter
Tag 3: Karwendelhaus – Scharnitz
20,6 Kilometer und 1.478 Höhenmeter / 21,91 Kilometer und 1.398 Höhenmeter
GESAMT
90,7 Kilometer und 4.947 Höhenmeter / 91,83 Kilometer und 5.109 Höhenmeter
Gelaufen mit:
- Brooks Mazama 2 (traumhaftes Fußbett und Gewichts-Leistungsverhältnis, Profil hat jedoch im Karwendelschutt extrem gelitten)
- Black Diamond Z-Pole (sauleicht, aber auch saufragil)
- Camelbak Octane 18X
- Arcteryx Soleus Short (immer noch eine der besten Laufshorts, die ich je im Einsatz hatte)
- Patagonia Houdini Jacket
- Patagonia Duckbill Cap
- SmartWool Run Elite Low Cut Socken
- Garmin Fenix 3
„Hoch- und Tiefpunkte“ der Strecke:
- Königsdorf: 625 Meter
- Blomberg Talstation: 705 Meter
- Zwieselalm/Schnaiteralm: 1.245 Meter
- Querung Murnerbach bei Lexenhütte: 970 Meter
- Sattelalm: 1.094 Meter
- Übergang vor der Tutzinger Hütte am Glenner Bergl: 1.475 Meter
- Tutzinger Hütte: 1.327 Meter
- Abzweigung am Benewand-Westanstieg oberhalb der Glaswandscharte: 1.571 Meter
- Glaswandscharte: 1.324 Meter
- Jachenau Ort: 790 Meter
- Rißsattel: 1.217 Meter
- Vorderiss: 782 Meter
- Abzweigung Paindl/Fermersbachtal: 835 Meter
- Bäralpl: 1.782 Meter (eigentliche Passhöhe oberhalb des Bäralpl auf ca. 1.820 Meter)
- Karwendelhaus: 1.771 Meter
- Übergang zum Toni Gaugg-Weg am Westrücken der Ödkarspitzen: 2.095 Meter
- Karboden Marxenkar: 1.975 Meter
- „Pass“ am Toni-Gaugg-Weg oberhalb der Breitgrieskarscharte: 2.430 Meter
- Kleine Seekarspitze: 2.613 Meter
- „Pass“ am Südgrat der Breitgrieskarspitze: ca. 2.520 Meter
- Pleisenhütte: 1.757 Meter
- Scharnitz: 964 Meter
Super Tour und super Bericht!!
Danke, Michael!
Sehr cool und feine Leistung!!
Steile Schneefelder im Sommer: Nein, danke – aber ein bisschen drin wühlen und die Kornformen und -größen inspizieren: immer gerne 🙂
Danke, Lukas! 🙂
Servus!
Ich bin hier auf der Suche nach Bildern rund um den Gjaidsteig gelandet – thematisch also zu 99 % daneben, aber völlig baff von der toll geschilderten Durchquerung, die ich parallel zum Lesen auf der Karte mitverfolgt habe und so – für Mountainbikeraugen – ganz neuer Wege gewahr geworden bin.
Merci also für diese sehr schön bebilderte Erlebniserzählung! Die körperliche Komponente ist für einen Nichtläufer wie mich absolut nicht nachvollziehbar, es ist mir ein Rätsel, wie man so weit (und schnell) laufen kann. Einfach irre! =P
Beste Grüße aus Tirol
Marco, der Schneefelder auch stets meidet.
Servus Marco, Danke für Deinen Kommentar! Ja, das war eine tolle Aktion….bin auch viel mit dem MTB unterwegs und staune immer, wo die Leute inzwischen überall lang fahren. Da würde meine Fahrtechnik nicht ausreichen…..Viele Grüße aus dem Oberland!